Indoor
Seilgarten
Einführung
Praxis
|
Outdoor- Hochseilgärten
haben Hochkonjunktur! Sie erfreuen sich derzeit bei Jung und Alt größter
Beliebtheit. Neu ist die Einrichtung eines Indoor-Seilgartens in einer
Sporthalle an einer konventionellen Klettertauanlage! Sicherlich
erfordert der Outdoor-Hochseilgarten mit ca. 15m Höhe mehr Wagnis, Mut
und Anstrengungsbereitschaft als der Indoor-Seilgarten mit ca. 5m Höhe
in einer Standardhalle. Der pädagogische Wert ist aber im
handlungsorientierten Klettern und nicht im technikbezogenen
Sportklettern zu suchen.
Mit dieser Innovation bietet sich im Sportunterricht in Schule und
Verein ein außergewöhnliches Bewegungsangebot, das für ein
mehrperspektivisches Unterrichten sehr gut geeignet ist.
Zur
Entstehung
Die
Idee des Indoor-Seilgartens entstand bei der Konzeptentwicklung eines
neuen Sporthallentyps. In diesem Pilotprojekt des SB DJK Würzburg und
der Firma Erhard Sport International , Rothenburg, wurde die sogenannte
„BEWEGTE SPORTHALLE“mit einigen innovativen Ideen für den Schul-
und Vereinssport im Juli 2008 realisiert. Eine davon ist der Indoor-Seilgarten
Jede
konventionelle DIN gerechte Klettertau-Anlage kann
ohne größere Schwierigkeiten in einen Indoor-Seilgarten
umgebaut werden. Daher interessant für jeden Sportlehrer und Übungsleiter!
Konstruktion, Bau- und Funktionsweise wurden in der praktischen
Einführung in das Klettern am Indoor-Seilgarten näher
beschrieben. Hier geht es um den pädagogischen Hintergrund.
Das MEHRDIMENSIONALE TURNKONZEPT als LEITIDEE
Dieses Bewegungskonzept war
bestimmend für die Leitidee bei der Planung der „Bewegten
Sporthalle“ und innovativen
Einrichtungen ,wie Indoor-Seilgarten, Sy-Nodi
Adaptergeräte, Deckenschienen für Longen und Bungee, Gerätanordnung
, Rettungsrutsche, Air- Akrobatikbahn u.a. Deshalb sollen Inhalt und
Zielsetzung dieses Konzeptes kurz dargestellt werden.“Das
Mehrdimensionale turndidaktische Konzept (MTK) ist der
gelungene Versuch eines sowohl aus theoretischer als auch praktischer
Sicht umsetzbaren Vorschlags für eine Zusammenführung von didaktischen
Zielen des normfreien und normierten Turnens.“(Knirsch, 2000,
S.199).“Diese neue- mehrdimensionale – turndidaktische Konzeption
greift bestehende Didaktikmodelle auf, stellt sie aber in einen
komplexeren Sinnzusammenhang.“ (dvs Informationen,2000,S.67).“....es
sind Modelle für einen spielbetonten Turnunterricht , der möglichst
viele Sinnperspektiven...verknüpft.“ (Tokarski, 2000).
Die BEZUGSEBENE beinhaltet das Didaktische Dreieck mit dem
Mensch-Welt-Dialog. Im Mittelpunkt steht der ganzheitlich erlebende und
sich verhaltende Mensch, der in seine Mit- und Umwelt eingebunden ist.
Die Erfahrungsvielfalt auf der
Grundlage umfangreich genutzter Aktionsweisen des Menschen wird mit dem
Begriff Mehrperspektivität
bezeichnet. Grundlage sind die von Kurz vorgestellten Sinnperspektiven
des Sports ( Kurz, 1992, S.15).Diese Sinnrichtungen Eindruck, Ausdruck,
Spannung, Miteinander, Gesundheit, Leistung sind Bezugspunkte für eine
differenzierte individuelle Sinngebung sportlicher Aktivitäten. Sie
begründen ein Repertoire von Optionen für die Unterrichtsgestaltung
und sind Grundlage für einen mehrperspektivischen Unterricht. Seine
Bedeutung liegt vor allem darin, unterschiedliche Motive anzusprechen
und eine größere Bandbreite pädagogischer Möglichkeiten verfügbar
zu machen. Diese Sichtweise soll auch die Aktionsweisen Spielen,
Leisten, Kämpfen, Gestalten umfassen, da diese Bereiche in einem
integrativen Zusammenhang stehen. Spielbetontes Sich Bewegen an Geräten,
hier am Seilgarten, ist inhaltlich gleichzusetzen dem spielbetontem
Turnen. Es bedeutet Freiheitserfahrung beim Erleben seines eigenen Könnens,
ein Sich-Lösen von vorgenommenen, fremdbestimmten Bewegungen und Geräten.
Spielbetontes Turnen beinhaltet die anerkannten Merkmale des Spielens
und erhält damit seinen unverzichtbaren Wert: Es sind:
Handlungsfreiheit,scheinhaftes Schweben, Geschlossenheit, Ambivalenz
,Innere Unendlichkeit, Zeitenthobene Gegenwart, Kommunikation, Offenheit
und Wagnis, Überfluss und Nicht-Notwendigkeit, Umkehr, Erregung und
Sensation, Dialektik und Innovation. Einige dieser Spielmerkmale sind
sehr mit Sinnperspektiven
verknüpft, z.B. Spannung/Wagnis und Spielen. Die Spielformen lassen
sich überführen zu Leistungs- und Gestaltungsformen, die Spielaufgaben
zu Leistungs- und Gestaltungsaufgaben (siehe Abbildung Nr.4).
Die
ZIELEBENE umfasst die Identitätsbildung
über die Handlungskompetenzen. Die Entwicklung der motorischen,
emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen geschieht
in einem mehrdimensionalen Prozess d.h. sie werden in einem
Verbund über vielfältige Körper-, Bewegungs- und Materialerfahrungen
herausgebildet.
Die
Identität ist durch zwei Dimensionen gekennzeichnet. Die personale
Identität ist charakterisiert durch das Selbstkonzept, das
Selbstwertgefühl, den Zustand eines Selbst-Erlebens auf der Grundlage
eines Selbstbildes. Die soziale Identität resultiert aus der Zugehörigkeit
zu Gruppen sowie aus Funktionen und Rollen, die in der Gesellschaft übernommen
werden. Beide Dimensionen von Identität sollten sich in einer gewissen
Ausgewogenheit entfalten können (Baumann/Diener,1999,S.38
ff).
Die Absichten und Aussagen des
MTK ergeben für den zukunftsorientierten Sporthallenbau (speziell für
die „BEWEGTE
SPORTHALLE“)schlagwortartig formuliert folgende
Konsequenzen:
- Sinngerecht
:Ausrichtung nach Sinnrichtungen (vgl. Dieckert/Koch, 1989
- Multifunktional: Bauweise und den Gerätkonstruktionen
für alle Altersgruppen und Zielgruppen (auch für Behinderte)
soweit möglich
- Kindgemäß:
besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder.
Grenzsituationen
beim Balancieren
und Klettern
Der
Bezug des Menschen zu seiner Umwelt, dem Seilgarten sind die Bewegungen
Klettern und Balancieren. Es sind die
elementaren Grundtätigkeiten in der Bewegungserziehung und im Turnen.
Nach Laging /Scheffel (1984 S.326-332) erschließen sie einen
Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereich, in dem die Spannung zwischen
Gleichgewicht –Verlieren und Gleichgewicht-Wiederherstellen auf
begrenzten, instabilen Balancierflächen
dominiert. Balancieraktionen sind Risiko- Wagnissituationen mit
Spannungsmomenten. Sie bescheren Erfolgserlebnisse, wenn das
Gleichgewicht gehalten oder wiederhergestellt wird. Andererseits erlebt
man sofort den Misserfolg, sobald das Gleichgewicht verloren geht.
Dieser Reiz ist am Seilgarten besonders groß und außergewöhnlich, da
die Balancierelemente in der Mitte
aufgehängt besonders stark schwanken und instabil sind. Außerdem
ist die Balancierfläche nur 10 cm breit, eine Tatsache, die an
Konzentration und sinnlicher Wahrnehmung besondere Anforderungen
stellt. Die Höhe von 5
m (in manchen Hallen noch höher)
verlangt überdies eine noch größere Überwindung. Der Mensch erfährt
eine ungewohnte Grenzsituation seines Einschätzungsvermögens bei
diesem Wechselspiel der inneren und äußeren Kräfte. Risiko wird
erfahrbar und kalkulierbar festgestellt. Der Spannungszustand motiviert
Kinder und Erwachsene in gleicher Weise. Es entstehen psychische
Erfahrungen, Bewegungsmomente mit Flow-Erleben
(Csikszentmihalyi,M.,1985),
die pädagogisch genutzt werden können. (Bräutigam, 1994, S.236-244).
Klettern galt bereits bei den Philanthropen als wichtiger Bereich der
Leibesübungen. Eine große Ähnlichkeit besitzen die Klettergerüste
GuthsMuths von 1817 mit dem heutigen Hochseilgarten.
Klettergerüste von GutsMuths von 1817 (nach Jahn)
Zum Vergleich:
Outdoor
- Hochseilgarten bei Tännesberg 2009
|
Indoor Seilgarten Würzburg 2009 |
Der
Auf- und Abstieg am Seilgarten geschieht im Vertikalklettern an
der schwankenden Strickleiter. Der Balancierparcour des
Seilgartens selbst wird im Querklettern (ähnlich dem Bouldern, aber mit
dem Unterschied der hier vorgenommenen Sturzsicherung) absolviert. Die
innige Verknüpfung beider Grundtätigkeiten, Klettern und Balancieren,
wird am Seilgarten besonders deutlich. Ein entscheidender Unterschied
zum Sportklettern liegt in der Zielsetzung. Am Seilgarten geht es
vorwiegend um die Vermittlung der Handlungskompetenzen und um
Erlebnisgehalte nicht um das Erlernen einer bestimmten Klettertechnik,
um etwa einen höheren Schwierigkeitsgrad zu bewältigen oder auf das
alpine Klettern vorzubereiten. Balancieren und Klettern besitzen demnach
ein großes Potential im Handeln und Erleben. Die Bewegungshandlungen am
Seilgarten verlaufen unter sich stetig verändernden Situationen. Die
motorische Kompetenz bildet sich in der Anpassungsfähigkeit und
Bewegungssicherheit . Kognitive Kompetenzbildung ergibt sich im Erkennen
seiner Stärken und Schwächen in diesen Grenzsituationen. Emotionale
Kompetenz entsteht beim Überwinden von Ängsten,
beim Bewusstmachen von Erfolgserlebnissen, beim Zeigen von
Risikobereitschaft und Selbstbewusstsein.
Von subjektiver
Sinngebung zu pädagogischen Perspektiven am
Seilgarten
Das Vermittlungsmodell des MTK
fordert ein mehrperspektivisches Unterrichten nach Sinnrichtungen. Sie
sollen erlebt und in Erfahrung gebracht werden.
Worin liegt der
Sinn eines Seilgartens in der Sporthalle?
Das „Sich Bewegen“ am
Seilgarten ist nicht nur sinngeleitetes, sondern auch nach Sinn
suchendes Handeln. Für den pädagogischen
Zusammenhang ist es wichtig, zu unterscheiden, ob der Sinn der
sportlichen Handlung vorwiegend im Handlungsverlauf selbst oder in ihren
Folgen liegt. Aus den Sinnrichtungen nach Kurz können pädagogische
Perspektiven abgeleitet werden. Eine Perspektive ist zum einen
eine Sicht von einem bestimmten Standpunkt aus, zum anderen eine
Erwartung an die Zukunft. Im ursprünglichen Sinne durchblickend (= lat.
perspectivus). Die Herausforderung besteht darin, die
Bewegungshandlungen für die Schüler so durchschaubar und erfahrbar zu
machen, dass sie zum Erlebnis werden und bildende Wirkungen auslösen
(/Neumann/ Balz,2004, S.34,35). Handlungsfähigkeit und
Erlebnishaftigkeit sollen im praktischen Sportunterricht am Seilgarten
realisiert werden. Das setzt voraus, dass der Handlungsvollzug in seiner
Sinngebung jedes Mal reflektiert und durch Aussprache mit den
Teilnehmern bewusst gemacht werden muß.Im Nachfolgenden wird der
Versuch unternommen, Sinnperspektiven und die daraus resultierenden Pädagogischen
Perspektiven beim Klettern und Balancieren am Seilgarten mit dem
Lehrplan für Gymnasien (NRW) in Beziehung zu bringen und didaktisch zu
begründen (Lehrplan Schulsport Sekundarstufe II NRW, 1999, S.34-40):
EINDRUCK
Die mannigfaltigen Bewältigungssituationen
am Seilgarten stimulieren die vestibulären, kinästhetischen und
taktilen Wahrnehmungsprozesse. Die Auge-Hand Koordination und das räumliche
Sehen wird besonders angesprochen. Oft treten Situationen auf, die nur
mit Griff der Hände und einem eingeschränkten Stand der Füße bewältigt
werden können. Der Kletterer muß seinen Gleichgewichtszustand laufend
neu herstellen. Die situative Vielfalt der Balanciermöglichkeiten führt
zu Körpererfahrungen durch die Anforderungen im Bereich der
Gleichgewichts- und Spannungsregulierung. Am Schlusse genießt
jeder, der den Parcour gemeistert hat, den besonderen Reiz des
Balancierens und Kletterns. Erfahrungen außergewöhnlicher
Art werden damit erschlossen.
Pädagogische Perspektive
Verbessern der
Wahrnehmungsfähigkeit und erweitern der Bewegungserfahrungen:
Für die Entwicklung und das
Lernen im Kindes und Jugendalter ist die Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit
grundlegend. Eine vielseitige entwicklungsgerechte Ansprache aller Sinne
fördert das Lernen und zugleich die allgemeine Lernfähigkeit. Klettern
am Seilgarten erfordert alle Sinne (sensorische Integration) und eröffnet
die dritte Dimension. Erziehen durch Bewegung führt zum Erziehen zur
sicheren Bewegung.
SPANNUNG - WAGNIS
Diese Sinnrichtung lässt sich am Seilgarten besonders in Erfahrung bringen. Hier wagt jeder
aus eigener Entscheidung eine Balanciersituation mit unsicherem Ausgang
und ist bemüht sie mit eigenem Können zu bestehen. Gerade dann , wenn
der feste Stand auf dem Boden, die gewohnte Position im Raum aufgegeben
wird, sind Gleichgewichtssinn und Steuerungsfähigkeit gefordert.
Hier erleben wir echt Aufregendes, hier spüren wir auch mal das
Kribbeln im Bauch. Es entsteht eine Spannung, die wir in unserem Agieren
aufbauen, aufrechterhalten und auflösen. Handlungssituationen
am Seilgarten sind durch ihren Verlauf selbst reizvoll motivierend und werden
als Wagnis empfunden.Wagnis erwächst aus dem Spielen. Wie bereits erörtert,
teilen Wagnis und Spielen wesentliche Merkmale miteinander, z.B.
Ambivalenz und Spannung Es geht um Gelingen oder Misslingen, Können
oder Versagen, Erfolg oder Misserfolg. Die Ungewissheit kennzeichnet das
Klettern am Seilgarten und die hin und her pendelnde Gefühlslage, die
mit Spiel wie Wagnis verbunden ist (Warwitz, 2001, S. 9-12).
Pädagogische Perspektive
Etwas wagen und verantworten:
Wagnis ist eine Situation der
Bewährung. Die jungen Menschen werden an ihre Grenzen geführt. Am
Seilgarten lässt sich unter dieser Perspektive lernen, Ängste zu überwinden
oderzu seiner Angst zu stehen. Das Wagnis am Seilgarten ist eine
Grenzsituation, in welcher der Kletterer realistisch abschätzen muss,
ob er mit seinen Fähigkeiten der Aufgabe gewachsen ist. Auch muss er
die daraus resultierenden Folgen für sich und das Helferteam
verantwortlich kalkulieren. Am Seilgarten kann diese Situation unter
kompetenter Anleitung erprobt werden.
Ganz entscheidend ist die Übernahme
der Verantwortung und der Vertrauensaufbau beim Sichern mit dem Seil.
Der Bezug zu einer Sicherheitserziehung ist damit gegeben. Es ist ein
Lernbereich, Risiken zu erkennen, einzuschätzen und in gefährlichen
Situationen angemessen zu handeln. Der Wagende gewinnt an
Erlebnisintensität und Erlebnistiefe. Die Wagnishandlung ist
charakterisiert durch eine hohe Beanspruchung des ganzen Menschen. Um
die außergewöhnliche Situation am Seilgarten zu meistern, müssen auch
unterbewusste Kräfte mobilisiert werden.“ Entsprechend ergreift die
Spannung, aber auch das nachfolgende Erfolgserlebnis den Wagenden bis in
sein innerstes Wesen. Das Bewusstsein , eine große Tat vollbracht zu
haben, ist von nachhaltigen Glückgefühlen begleitet“ (Warwitz, 2001,
S. 281).
Zusammenfassend sieht Neumann
das pädagogische Potential der sportlichen Wagnisseim Selbststärkungseffekt,
in der Grenzerfahrung, Selbstaufmerksamkeit und Selbstaufklärung
(Neuman 1998, S. 4 ff). Die wichtigsten Grundsätze
einer Wagniserziehung ergeben sich schlagwortartig aus der Reflexion des
pädagogischen Wertes, wie Freiwilligkeit, Differenzierung, Übung,
Verantwortung und Reflexion.
MITEINANDER
Diese Sinnperspektive ist am
Seilgarten in ganz besonderer Weise zu vermitteln.Der Wechsel von einem
Balancierelement zum anderen gelingt nur, wenn ein Helfer den Abstand
verringert und die Teile stabilisiert. Kletterer und Helfer müssen
zusammen kommunizieren und agieren. Diese
gemeinsame Aktivität verlangt Kooperation. Nach mehrmaligen
Wiederholungen dieser Aktionen bildet sich eine Vertrautheit im Umgang
miteinander, entsteht ein Zusammengehörigkeitgefühl
und schließlich eine Teamkompetenz.Nach Absolvieren des gesamten
Kletterparcours wechselt der Kletterer in das Helferteam und
ein ehemaliger Helfer wird zum Kletterer. Dieser Rollenwechsel führt zu
gegenseitigem Verständnis und Vertrauen. Auch
hier ist wieder das verantwortungsvolle Miteinander zwischen der
kompetenten Lehrperson und dem Kletterer und Helferteam bezeichnend.
Pädagogische
Perspektive
Kooperieren,
sich verständigen:
Bestandteil und zentrales
Element in der Erlebnispädagogik ist der aus dem Projekt Adventure (=
erlebnisorientiertes Abenteuer- und Erziehungsprogramm in den USA)
stammende Wertevertrag. Er bedeutet die pädagogische Leitlinie für ein
produktives Arbeiten in der Gruppe. Meiner Meinung nach ist dieser
Wertevertrag für den Aufbau der Teamkompetenz
am Seilgarten besonders zu empfehlen:
Drei wesentliche
Vereinbarungen liegen dem Vertrag zugrunde:
·
wir wollen als eine
Gruppe zusammenarbeiten und auf Einzel- und Gruppenziele hinarbeiten
·
wir wollen
an bestimmten Sicherheits- und Gruppenverhaltensrichtlinien
festhalten
·
wir wollen uns
gegenseitig Rückmeldung geben und möchten Rückmeldung erhalten,
positiv wie negativ.
Bei
einer größeren Projektarbeit wird der Vertrag schriftlich
mit Unterschrift abgefasst. In
einer normalen Unterrichtsstunde genügt eine kurze Darstellung. Ganz
verzichten sollte man in keinem Fall, da er gerade in diesem
Themenbereich eine hohe erzieherische Effektivität aufweist (Feierabend
et al., 1998, S.18-21).
Die weiteren Sinnperspektiven am
Seilgarten sollen (aus Platzgründen)
nur kurz skizziert werden:
- Leistung
(Könnensbewusstsein, Grenzen erfahren, verstehen, einschätzen)
- Gesundheit
(Flowerleben, Spaß, Fitness)
- Ausdruck
(Imitation, Szenendarstellung)
Lehren und Lernen bilden eine
Einheit. Mehrperspektivisches Lehren führt zu mehrperspektivischen
Lernen.
Zusammenfassend ergeben sich
folgende LERNBEREICHE am SEILGARTEN:
BEWEGUNGEN
erfahren-erleben
balancieren
im
Gleichgewicht sein
klettern
|
|
LEISTEN
erleben
sein
Können einschätzen lernen,
Kompetenzen
erlangen
|
|
WAHRNEHMUNG
steigern
Vestibularsinn
schärfen
koordinative
Sicherheit erlangen
Angstlust
einsetzen
|
|
|
|
|
|
SOZIALES
LERNEN
Miteinander
Probleme
lösen
kommunizieren
kooperieren
gegenseitig
helfen
|
|
LERNBEREICHE
am
SEILGARTEN
|
|
KREATIVITÄT
fördern
neue
Bewegungssituationen
suchen
und kennenlernen
|
|
|
|
|
|
GESUNDHEITS-
BEWUSSTSEIN
ENTWICKELN
Spaß
haben an den
individuellen
Lösungs-
möglichkeiten
sein
Anspruchsniveau finden
|
|
WAGNIS
Grenzsituationen
erleben
etwas
wagen und
verantworten
|
|
LEARNING
by DOING
außergewöhnliche
Klettersituationen
durch
Probieren,
Nachahmen
meistern
lernen
|
ANWENDUNG
im Sportunterricht
Die didaktischen und pädagogischen
Voraussetzungen für ein Mehrperspektivisches Unterrichten am Seilgarten
sind nach der vorgenommenen Analyse genügend erfüllt.
Wie ist es nun möglich, die
Sinnrichtungen und pädagogischen
Perspektiven in eine praktische Unterrichtsgestaltung umzusetzen ? Die
im Mehrdimensionalen Turnkonzept vorgeschlagenen Aufgabenstellungen im
Spielen, Leisten und Gestalten können in Anlehnung an Balz inhaltlich
präzisiert und für mehrperspektivische Unterrichtsvorhaben modifiziert
werden (Balz,2004,S. 94-96):
Der Unterricht wird durch
Thematisierung einer spezifischen
Perspektive aus dem Inhaltsbereich einer Sportart bzw.
einer Bewegungsart akzentuiert. Beispiel am Seilgarten: das
Spannung und Wagnis beim Balancieren
|
Zwei bis drei unterschiedliche
Perspektiven werden als Kontrast thematisiert. Beispiel am
Seilgarten:Klettern als Erfahrung von Höhen, Klettern als
individueller Ausdruck,Klettern als praktische symbolische
Bearbeitung seelischer Problemlagen (Funke-Wieneke/ Kronbichler, 1993, S. 17-19).
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3. INTEGRIEREN
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Bestimmte Sichtweisen
bzw. Sinnrichtungen werden nicht sukzessiv, sondern
simultan ermöglicht. Das bedeutet, dass beim Klettern am
Seilgarten unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig aufgegriffen
werden. Beispiel: die Perspektiven Spannung/Wagnis, Miteinander,
Eindruck. Die Thematisierung für das Unterrichten ist auf die Bedürfnisse
und Gedankenwelt der Schüler auszurichten (Baumann/Diener, 1999,
S.137-138). Der Jugendliche sucht häufig die Selbstbestätigung
vor seinen Mitschülern Das Thema könnte daher lauten:„ „Wer
besteht die Mutprobe ?“(= Spannung/Wagnis).Bei höher gesetztem
Balancierweg ist das Thema noch reizvoller: „Teste deine
Fitness!“ (= Leistung).Ein anderes Thema: „Mit und im Team
bist du stark!“(= Miteinander). Ein Lösungsbeispiel dieser
integrativen Mehrperspektivität wurde im Praxisteil des Übungsleiters
beschrieben.
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Im schulischen
Sportunterricht sollen nicht
nur Kompetenzen im Bereich Können und Wissen vermittelt werden,
sondern auch Haltungen und Werte. Demnach hat der Sportpädagoge
einen erzieherischen und einen bildenden Auftrag zu erfüllen.
Dieser Doppelauftrag wird
in der Zielebene des MTK Konzept als „bildende Wirkungen“
des Mehrperspektivischen Unterrichtens zur Identitätsbildung
aufgezeigt. Ein erziehender Sportunterricht ist wertorientiert. Er
fördert personale und soziale Identität auch über den Sport
hinaus. Ausgangspunkt sind die oft ambivalenten Erfahrungen im
Sport und wie hier aufgezeigt, am Seilgarten. Die Vermittlung
vielfältiger für die Entwicklung des Menschen wichtigen
Grunderfahrungen und die Realisierbarkeit vieler Sinnrichtungen
berechtigt denWunsch, ja die Forderung, den Seilgarten in den
Lehrplan des schulischen Sportunterrichts aufzunehmen.
Den Indoor-Seilgarten als neues Turngerät zu bezeichnen wäre
zwar vertretbar,würde aber sicherlich im traditionellen Lager der
Turner einen Protest auslösen. Trotzdem soll an
die verantwortlichen Stellen für die Aus- und Fortbildung der
Sportlehrkräfte in der Schule und der Übungsleiter in den
Vereinen appelliert werden, das sich erst zu entwickelnde Erlebnisturnen
am Seilgarten als neue Lehr- und Ausbildungsinhalte aufzunehmen.
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Das Klettern am Hochseilgarten zählt
vorläufig noch zu den sogenannten Trendsportarten. Allerdings
zeichnet sich bereits ein Etablierung als Erlebnis- und
Abenteuersport ab. Der pädagogische Wert ist so hoch einzuschätzen,
dass die Aufnahme in den Fächerkanon der schulischen Lehrpläne
und in die Ausbildungsinhalte der Sportlehrer- und Übungsleiter-ausbildung
gerechtfertigt und hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit ist. |
Nihil novum sub sole (= nichts
Neues unter der Sonne), dieser lateinische Ausspruch gilt für die
meisten Innovationen. Der Hochseilgarten – ob In- oder Outdoor-
ist im Prinzip nichts Neues, es ist nur ein Ersatz für die
schwindenden Bewegungsanlässe unserer Kinder und Jugendlichen in
der freien Natur. Dieses Defizit gilt es in Zukunft in
einem mehrperspektivischem Sportunterricht abzutragen.
|
LITERATUR
Baumann,H./Diener,H.
|
Turnen spielend
erleben,
Turnen 1, Spezielle
Didaktik der Sportarten
|
1999, Frankfurt /
Main
|
Bräutigam, M.
|
Spaß als Leitidee
jugendlichen Sportengagements
|
Sportunterricht,1994,
43.Jhrg. Heft 6, Schorndorf
|
Csikszentmihalyi,M.
|
Das Flow-Erlebnis.
Jenseits von Angst und Langeweile.
|
1985,Stuttgart
|
Dieckert,J./Koch,J.
|
Sinnrichtungen für
Spielräume.Nachdenkens-wertes für Pädagogen und Architekten
|
1989, Spielraum,
Beilage zu Animation, Nr.1
|
Feierabend, K./Gosebrink,M./Klenzner,
P. (Hrsg.)
|
Abenteuerpädagogik
an der Schule-
Dokumentation
|
1998, Freiburg
|
Funke-Wieneke,J./Kronbichler,E.
|
Klettern in
bewegungspädagogischer Sicht
|
Sportpädagogik,1993,17.Jhrg.,
Nr.4, Seelze
|
Knirsch, K.
|
Buchbesprechung-
Rezension,
|
Sportunterricht,2000,
Heft 6,S. 1999, Schorndorf
|
Kurz, D.
|
Sport mehrperspektivisch unterrichten- warum
und wie
|
1992, Schorndorf,
|
Laging, R./ Scheffel,H.
|
Bewegungsgelegenheiten an Turngeräten
|
1984, Schorndorf
|
Neumann,P./ Balz,E. (Hrsg.)
|
Mehrperspektivischer
Sportunterricht
|
2004, Schorndorf
|
Neumann, P.
|
No risk no fun oder
Wagniserziehung im
Schulsport
|
Sportunterricht, 1998, 47.Jhrg.
Heft 1, S.4-12
|
NWR
|
Lehrplan Schulsport
Sekundarstufe II
|
1999
|
Tokarski, H.
|
Das neue Fachbuch
|
In Sport Praxis, 2000, Nr.3
|
Warwitz,S.
|
Sinnsuche im Wagnis
|
2001, Hohengehren
|
Abbildung aus Gasch, R.:Handbuch des
gesamten Turnwesens und der verwandten Leibesübungen, Leipzig/ Wien
1920
Verfasser: Helmut Diener
|
|